Tagebücher 1918-1937 (German Edition) by Harry Graf Kessler
Autor:Harry Graf Kessler [Kessler, Harry Graf]
Die sprache: de
Format: azw
veröffentlicht: 2011-03-27T16:00:00+00:00
1924
Bückeburg. 26. November 1924. Mittwoch
Nachmittags nach Bückeburg zurück, das mir immer unsympathischer und unheimlicher wird. Eine ranzige Kleinstadt-Atmosphäre dringt erschütternd auf einen ein, sobald man aus dem Bahnhof heraustritt: giftige Fäulnis-Bazillen einer toten Vergangenheit. Die ›Kleine Residenz‹ in ihrer korrumpiertesten Form. Ein übermäßig reiches Fürstengeschlecht und sonst nur dienende Kleinbürger vom pensionierten General bis zum Hofgärtner und Leibzahnarzt herunter. Vor diesem Publikum sprechen zu müssen, schnürt mir die Kehle zu. In den Lokalblättern stehen auch schon (zum ersten Mal im Wahlkampf) widerwärtige, gehässige persönliche Angriffe auf mich wegen meiner internationalen Verwandtschaften, meines ›Geistes‹ (Schöngeistigkeit, ›Joseph‹ usw.), wegen des Weimarer Flugblattes usw.
Der junge Hellmut Hoffmann, mein deutschnationaler Gegner von gestern, den ich im Restaurant traf und begrüßte, warnte mich, daß es heute abend in meiner Versammlung wohl etwas unruhig zugehen werde. Im übrigen sei ich viel zu schade für die Demokratische Partei, die ›mit Judengeld bezahlt‹ werde; ich gehörte von Rechts wegen zu den Deutschnationalen. Ich sagte, gerade umgekehrt scheine es mir, daß junge Idealisten wie er nicht einer so kleinlich machtlüsternen Partei wie der Deutschnationalen nachlaufen sollten.
Die Versammlung fand im Konzertsaal des Rathauses statt, der siebenhundert Personen faßt und überfüllt war. Hugo (DVP) soll neulich in einem viel kleineren Saal kaum hundert Personen gehabt haben. Den Vorsitz führte der Stadtrat Dr. Schröder, ein etwas weicher, unsicherer Mann, der Angst zu haben schien. Etwa ein Drittel des Publikums bestand aus Jungdo, pensionierten Offizieren, kleinen versauerten Adligen, die dem Höfchen hier anhängen (ein Graf Hardenberg, ein Rabe v. Pappenheim, ein v. Langen usw.); auch einer der Schaumburgischen Prinzen war aus Neugier mit dabei. Offenbar lag ein großer Spektakel in der Luft. Guseck telephonierte Michelsen aus Minden mit einigen Reichsbanner-Leuten heran; und ich legte meine Rede darauf an, Anlässe zu Demonstrationen zu vermeiden. Zunächst gab ich eine Erklärung in der Flugblatt-Angelegenheit ab, da diese heute hier von der Landeszeitung unter Hinweis auf meine Versammlung (›die verspräche, recht interessant zu werden‹: avis au lecteur!) herausgebracht worden ist. Dann redete ich ganz sachlich etwa anderthalb Stunden unter größter Aufmerksamkeit der Versammlung und ohne jede Störung.
Die Hofgesellschaft und ihr Prinz waren um ihr Vergnügen betrogen, den Gegnern in der Debatte offenbar ihre im voraus berechneten Effekte genommen, so daß auch die Aussprache nachher verhältnismäßig ruhig und sachlich verlief. Der Führer der Bückeburger Deutschnationalen, ein Zahnarzt Mützelfeld, klagte mit süßsaurer Höflichkeit, meine Rede sei ›so bestrickend‹ gewesen, daß die Zuhörer gar nicht gemerkt hätten, wie ich um die wesentlichen Fragen herumgeredet hätte; bezeichnete aber dann auch selber nicht diese wesentlichen Fragen. Der Führer der Volkspartei, ein Schulmeister Büsing, bezeugte mir auch meine ›Sachlichkeit‹ und drückte nur mit etwas drolliger Emphase die Hoffnung aus, daß ich auch nach Anhörung seiner Einwände mich nicht in meinem Schlußwort durch meinen Zorn zur Unsachlichkeit hinreißen lassen möchte; ›dann würde ich bei den Bückeburgern mein Ansehen gewaltig vermehrt haben‹.
Der einzige, der ganz aus der Rolle fiel, war ein deutschnationaler Herr von Langen, der mir meine englische Mutter vorwarf, aber sofort von der Versammlung niedergebrüllt wurde mit: »Nicht persönlich werden, zur Sache; was hat das mit dem Thema zu tun.
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